Wilke-Wurstskandal endlich vollständig aufklären

Meine Rede im Landtag vom 31.10.2019

Ein kriminell handelndes Unternehmen der Fleischindustrie wurde endlich geschlossen. Die Betonung liegt auf dem Wort „endlich“.

Leider geht es nicht nur um den Lebensmittelskandal, sondern es schließen sich weitere Skandale an: Arbeitsschutz, Ausbeutung und anderes mehr. Aber darüber müssen wir vielleicht an anderer Stelle sprechen. Das Schlimme daran ist, dass offensichtlich alles sehr lange bekannt war, aber weggesehen wurde. Das Schwerwiegendste ist, dass Menschenleben geopfert wurden – und das wegen des Profits.

Aber alles weist darauf hin, dass es nicht nur um den Wurstfabrikanten geht, sondern dass hier auch das System Lebensmittelsicherheit – die Kreisbehörde, das Regierungspräsidium und das Ministerium – versagt hat.

Warum wurde kollektiv weggesehen? Warum wurde verschwiegen und vertuscht? Derartige Zustände entstehen nicht von heute auf morgen. Sie haben sich über Monate und Jahre hinweg entwickelt. Deshalb tragen die Aufsichtsbehörden Landkreis, Regierungspräsidium und Ministerium eine erhebliche Mitschuld.

Obwohl es gerade für Sicherheit für die Verbraucher sorgen soll, spielt das Ministerium hier eine sehr fragwürdige Rolle. Es ist längst mehr Getriebener als Akteur.

Lassen Sie mich kurz die sieben Grundprinzipien der Lebensmittelsicherheit aufzeigen. Hieran kann man sehen, wie sie im Fall Wilke beachtet oder nicht beachtet wurden.
Da ist als erstes Prinzip die Unternehmerverantwortung – darüber wurde schon gesprochen – Eigenkontrollsystem und Aufzeichnungspflicht. Offensichtlich wurde hier gefälscht. Das ist mittlerweile klar geworden. Das ist der erste vorsätzliche Verstoß.

Zweites Prinzip: Rückverfolgbarkeit. Seit 2005 müssen EU-weit alle Lebensmittelunternehmen nicht nur dokumentieren, wohin sie ihre Lebensmittel geliefert haben, sondern sie müssen auch nachweisen können, woher ihre Lebensmittel bzw. deren Rohstoffe kommen. Das ist der zweite Verstoß – oder ein Totalversagen der Behörden. Denn warum hat es so lange gedauert, bis die Informationen flossen? Drittes Prinzip: amtliche Lebensmittelüberwachung. Dass die Anforderungen des Lebensmittelrechts auch eingehalten werden, kontrollieren die Lebensmittelüberwachungsbehörden. Hier geht es um risikoorientierte Betriebskontrollen. Sensible Lebensmittelbetriebe werden übrigens häufiger überwacht. – So viel zu den Pappenheimern, Frau Arnoldt. – Vorbildlich geführte Betriebe werden seltener überprüft. War Wilke vorbildlich? Aber wenn im Land Hessen nur 151 Lebensmittelkontrolleure zur Verfügung stehen und man bei einer Abwesenheitsquote von etwa 15 % auf 128 Lebensmittelkontrolleure für Tausende von Betrieben kommt, muss man sich fragen, was da los ist. Wenn man sich den Haushaltsentwurf 2020 anschaut, findet man dort keine Aufstockung.
Ja, die Kontrolle obliegt zunächst den Landkreisen und den kreisfreien Städten, das wissen wir. Aber haben sie auch das Geld zur Verfügung? Nein. Dafür sorgt schon die Landesregierung.
Viertes Prinzip: Vorsorgeprinzip. Risiken lassen sich wissenschaftlich nicht immer abschließend klären. Dann gilt das Vorsorgeprinzip. Behörden müssen dann vorsorglich Maßnahmen ergreifen, um die Risiken so gering wie möglich zu halten. Die Maßnahmen müssen angemessen sein – wieder ein Versagen der Behörden.
Fünftes Prinzip: unabhängige wissenschaftliche Risikobewertung. Hier muss man sagen: topp. Das BfR hat hier keine Beanstandung.
Sechstes Prinzip: Trennung von Risikobewertung und Risikomanagement. Erst kommt die wissenschaftliche Stellungnahme, dann ist das Risikomanagement – das BVL – am Zuge. Auch hier wurde wunderbar reagiert: topp. Aber die Informationen, die dem hessischen Ministerium vom BVL zur Verfügung gestellt wurden, blieben da liegen. Sie blieben da mehrere Tage liegen. Den Ausgang kennen wir.
Siebtes Prinzip: die transparente Risikokommunikation. Risikokommunikation findet auf mehreren Ebenen statt. Die Politik entscheidet über geeignete Maßnahmen zur Minimierung des Risikos. Wenn man die Prozesskette anhand des Falls Wilke betrachtet, stellt man fest, dass an vielen Stellen amateurhaft gearbeitet wurde. Der öffentliche Rückruf kam zu spät; er hätte viel früher als am 2. Oktober erfolgen müssen. Auch die Schließung des Betriebs hätte früher erfolgen müssen. Wir konnten heute Morgen von der Frau Ministerin auf FFH hören, dass das RP die Schließung des Betriebs verhindert und dies heute Nachmittag revidiert hat. Da fragt man sich, was hier los ist. Wenn wir uns den Bericht der Taskforce anschauen, stellen wir fest, dieser spricht Bände.

Das hessische Verbraucherschutzministerium hat zu verantworten, dass gesundheitsrelevante Informationen über den Listerienverdacht und den Listerienbefund im Zusammenhang mit Wilke nicht schnell genug an die unteren Behörden weitergegeben wurden.

Sie blieben tagelang im Ministerium liegen. Als der Fall schließlich zwar zu spät, aber dann doch öffentlich wurde, schwiegen Ministerin Hinz und ihre Mitarbeiter wiederum tagelang. Das Ministerium verantwortete weiterhin die scheibchenweise, lückenhafte und teils widersprüchliche Informationspolitik. Die Behörden hätten von sich aus sämtliche bekannten Abnehmer und Verkaufsstellen öffentlich machen können, wenn sie die gesetzlichen Ermessensspielräume im Sinne des Verbraucherschutzes genutzt hätten.

 

Auch das ist aus der Sicht des Gesundheitsschutzes ein Skandal. Frau Ministerin Hinz, somit übernehmen Sie die politische Verantwortung für das Mauern der hessischen Behörden, insbesondere – was mir heute noch einmal sehr deutlich wird – des Regierungspräsidiums. Ich darf Herrn Peter Hauk, Ihren Amtskollegen, zitieren, der gesagt hat, in Hessen liege ein jahrelanges Behördenversagen vor. Na ja. Es sind noch viele Fragen offen. Warum wurde z. B. am 5. September ein Treffen zwischen dem RP und der Lebensmittelkontrolle des Landkreises im Betrieb Wilke vereinbart, aber nicht durchgeführt? Die Mitarbeiter des RP – so hat es uns der RP gesagt – kamen, als die Mitarbeiter des Landkreises gerade hinausgegangen waren. Die Mitarbeiter des RP sind dann nicht weiter hineingegangen. Mir ist schleierhaft, warum das so war. Die Taskforce, die schnelle Eingreiftruppe, wurde erst am 2. Oktober, als eigentlich alles zu spät war, konsultiert. Der Bericht, den Sie alle kennen, spricht Bände. Frau Ministerin Hinz, die politische Verantwortung liegt eindeutig bei Ihnen. Wir stellen uns die Frage, ob hier eine Überforderung vorliegt.

Hier muss auch noch einmal deutlich gemacht werden, dass das Ministerium aufgrund des jährlichen Berichts des RP über den Erfüllungsgrad der Kontrollen darüber Kenntnis gehabt haben müsste und die Konsequenzen daraus hätte ziehen müssen. Den desolaten Zustand, der dort offensichtlich vorherrscht, haben wir heute hautnah miterlebt. Meine Damen und Herren, ich habe es anfangs gesagt: Wir wollen aber auch nicht außer Acht lassen, dass es im Zusammenhang mit dem Fall Wilke weitere Skandale gibt, die aufzuarbeiten sind. Es sind die Arbeitsbedingungen und das Arbeitszeitrecht. Was mich betroffen macht, ist das kollektive Wegschauen vieler. „Profit statt Mittel zum Leben“ scheint das heutige Motto der industriellen Fleischproduktion zu sein. Wenn die kriminellen Machenschaften bereits im Stall anfangen, wenn ein Landwirt für ein ausgeschlachtetes Schwein 150 € erzielt, aber allein 131 € für Futtermittel benötigt – die fixen Kosten lasse ich jetzt außer Acht; da sind noch Strom-, Stall-, Arbeitskosten etc. –, müssen wir uns nicht wundern, dass die Menschen auf solche Ideen kommen und kriminell werden.

Der Lebensmitteleinzelhandel kann das Kilogramm Fleisch dann als Lockangebot für unter 5 € bewerben. Da ist doch etwas faul in unserem Markt des Lebensmitteleinzelhandels.

Jedes schlechte Beispiel birgt aber auch die Chance, zukünftig etwas besser zu machen. Durch den Skandal um den Wurstwarenhersteller Wilke wurde der dringend notwendige Reformbedarf in der Lebensmittelüberwachung leider mehr als deutlich. Frau Ministerin, wir bieten Ihnen gerne unsere Hilfe an, es besser zu machen.

Das, was Frau Hinz abgeliefert hat, war aus meiner Sicht nicht viel. Wenn sie sagt, Verbraucherschutz genieße sehr hohe Priorität, dann muss man sich doch fragen: Wo war sie denn, die Priorität? Die sehr hohe Priorität ist doch jetzt erst bei Ihnen wach geworden, nachdem Sie diesen Skandal miterleben mussten.

Das sagen Sie auch, wenn Sie von personellen Engpässen sprechen. Wenn Sie davon sprechen, dass Ihre Mitarbeiter die Informationen nicht richtig gewertet haben, also die Informationen vom RKI bzw. vom BfR oder vom BVL, dann ist das ein Eingeständnis Ihrerseits, dass die Prioritäten nicht da waren, wo sie hingehören.

Wenn Sie von der Fachaufsicht sprechen, dann, glaube ich, verdient sie nicht einmal ihren Namen; denn sie hat alles andere als funktioniert. Wo bleibt da Ihre Verantwortung, Frau Ministerin?

Es gab Tote, und Sie sagen, „es … hätte besser laufen müssen“. Es gab Tote, und Sie sagen, es hätte besser laufen müssen.

Meine Damen und Herren, an der Stelle wurde noch nicht gesagt – und das möchte ich gerne nun tun –: Das RKI hat eine ausgezeichnete Arbeit geleistet. Wir können nur einen Dank an das Robert Koch-Institut dafür aussprechen, dass es so akribisch vorgegangen ist und wir so heute in der Lage waren, diesen Schmutz aufzudecken.

Frau Ministerin, Sie haben Maßnahmen erläutert. Das müssen Sie auch, und wir haben das so erwartet. Der Kollege Rock hat es gesagt: Die Erläuterungen hätten viel früher kommen müssen.

Möglicherweise wäre es dann nicht zu den drei Todesfällen gekommen, die eventuell nur die Spitze des Eisberges sind. Wir wissen nicht, ob es vielleicht noch mehr Todesfälle gibt. Meine Damen und Herren, wenn ich an die Hinterbliebenen denken, ist es eine Schande, was hier erfolgt ist.

Sie haben eben gesagt, das Regierungspräsidium hatte nicht genügend Hinweise. Das kann doch schlichtweg nicht wahr sein. Das Regierungspräsidium ist doch die Fachaufsichtsbehörde. Sie muss sich doch jährlich von den unteren Behörden einen Bericht geben lassen.

Frau Ministerin, ich bin hier ein Stück weit sprachlos, wie Sie mit dieser Sache umgehen.