Persönlicher Brief

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

die Krise, in der wir uns gerade befinden, bringt viele Menschen zum Nachdenken – und das in allen Schichten der Bevölkerung.
Auch ich mache mir derzeit viele Gedanken über das, was Corona gerade mit uns macht. Jetzt, wo das Leben entschleunigt wird, und wir Zeit haben, einen Blick auf das Wesentliche zu richten – auf das, worauf es wirklich ankommt.

Wie so viele von Ihnen, stelle auch ich mir die Frage, warum die systemrelevanten Berufe erst jetzt in dieser schweren Krise so bedeutend werden. Vor Corona war diese hohe Relevanz für unsere Gesellschaft nicht in diesem Maße sichtbar.
Die Krankenschwester, die im Mehrschicht-System die Menschen auf den Stationen versorgt, der Altenpfleger, der Überstunden ableisten muss, damit die Bewohnerinnen und Bewohner rund um die Uhr betreut werden können oder aber auch die vielen Einzelhandelskaufleute und Kassierer, die täglich harte Arbeit leisten, damit wir am Ende des Tages etwas zum Essen auf dem Tisch haben.

Wie Sie, stelle auch ich mir die Frage, warum diese Menschen, die so wichtig sind für unser System, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, nur so wenig Geld für ihre Leistung bekommen. Als Kassierer beispielsweise verdient man im bundesweiten Schnitt rund 27.000 Euro brutto jährlich – 18460 Euro netto bei Steuerklasse 1. Beim Berufskraftfahrer (ca. 29.600 Euro), dem Arzthelfer (ca. 31.000 Euro) und Altenpfleger (ca. 33.000 Euro) sieht es nicht viel besser aus. Dabei muss man sich klar vor Augen halten, dass es sich hier um einen bundesweiten Durchschnitt handelt. Das heißt, viele Arbeitnehmer liegen deutlich unter diesem Schnitt. Mit der ungünstigen Steuerklasse 5 bringen manche nicht mehr als 1200 Euro monatlich mit nach Hause.

Ich möchte heute keine Forderungen stellen. Nicht an die Landesregierung, nicht an die Bundesregierung. In der jetzigen Zeit ist es wichtig, solidarisch zueinander zu stehen und niemanden an den Pranger zu stellen. Zukünftig sollten wir aber konstruktiv darüber sprechen, ob und vor allem wie wir den Menschen in systemrelevanten Berufen, auch finanziell mehr Anerkennung schenken können.

Aber wir sollten auch noch einen weiteren Blick auf unser Wirtschaftssystem werfen. Derzeit sind wir in Deutschland so aufgestellt, dass wir auf „billig“ setzen. Billige Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland müssen zu uns kommen, um unsere Ernte zu retten. Jetzt in der Krise merken wir, dass diese Arbeitskräfte fehlen. Deutschland sollte wieder versuchen, zurück zu den Wurzeln zurückzukehren und den Wert von Lebensmitteln anerkennen. Statt Billigkräfte aus dem Ausland „auszubeuten“, sollten wir schauen, ob wir es nicht vielleicht auch selbst schaffen, unsere Ernte einzubringen. Dafür müsste dann der Spargel halt etwas mehr Geld kosten.

Oder schauen wir auf den Sektor Schlachtung. Hier im Land haben wir viel zu wenig Schlachter. Statt aber diese Berufe wieder aufleben zu lassen und zu fördern, werden die Tiere ins Ausland gebracht und dort geschlachtet. Aber erst jetzt merken wir, dass es wichtig ist, diese Ressource im eigenen Land zu haben.
Dadurch, dass wir zu viel auf andere und zu wenig auf uns setzen, sehen wir im Moment, dass unsere Versorgung nicht in solchem Maße sichergestellt ist. Wenn die Grenzen nämlich schließen, dann gibt es weder ausreichend Spargel noch Fleisch, um alle Bürgerinnen und Bürger damit zu versorgen.

Doch die Corona-Krise bringt nicht nur Bedenken mit sich, sondern bietet auch Chancen. Chancen, etwas zu ändern. Im Gesundheitssektor sollte zum Beispiel die Privatisierung überdacht werden. Man sollte sich in Zeiten wie diesen fragen, ob dieses System noch sinnvoll und zielführend ist.
Fraglich ist auch, ob unser jetziges Schulsystem noch zeitgemäß ist. Zurzeit reden alle darüber, ob unsere Elite – die Abiturienten – es wohl schaffen trotz Corona ihre Prüfungen zu schreiben. Aber was ist mit unseren Haupt- und Realschülern? Was ist mit den Abschlussprüfungen unserer Auszubildenden? Sie scheinen weniger relevant zu sein. Man muss sich daher fragen: Sind derartige Prüfungen überhaupt noch richtig und wichtig oder reichen vielleicht doch die benoteten Schuljahre aus, um sich ein Bild über die Leistungen des Schülers oder der Schülerin zu machen?

Das norwegische Schulsystem zum Beispiel gibt von den Klassen 1 bis 7 überhaupt keine Noten. Erst ab der achten Klasse werden die Leistungen bewertet, die dann darüber entscheiden, ob ein Schüler die gymnasiale Oberstufe besuchen kann oder nicht. Abschlussprüfungen gibt es generell keine.

Dieses Corona, so beängstigend es auch für viele sein mag, bringt aber noch mehr mit sich. Es lässt zu, dass sich die Menschen wieder nahkommen, die zusammengehören. Es lässt zu, dass man wieder mehr an seine Nächsten denkt und sie umsorgt. Es ist schön anzusehen, wie viele Menschen Solidarität zeigen mit der älteren und kranken Bevölkerung. Viele möchten in der jetzigen Zeit einfach helfen und für andere da sein.
Corona hilft uns allen dabei, wieder mehr zu Hause zu sein. Zu Hause bei unseren Lieben, aber es hilft auch dabei, dass unsere Welt endlich wieder aufatmen kann. Unser Klima verbessert sich von Tag zu Tag, und das nur, weil alle bewusster leben. Wir überlegen im Moment genau, ob wir heute nun unbedingt mit dem Auto fahren müssen oder ob es vielleicht doch noch Zeit hat bis zum nächsten Einkauf.

Wir merken im Moment wie wichtig regionale Anbieter sind. Sie schießen gerade wie Pilze aus dem Boden und bieten ihre Produkte an, die auch gerne nach Hause geliefert werden. Auch das könnte ein Stück Zukunft sein, die uns Corona vor Augen führt. Lokale und regionale Lebensmittel, der Online-Buchhandel vor Ort oder die Spielsachen von nebenan, die ganz bequem von der Couch aus bestellt werden können.
Letztlich werden wir alle sehen, was diese Zeit mit sich bringt. Schön wäre es, wenn wir uns alle ein paar dieser Gedanken behalten, aber auch mutig und vor allem bereit sind, einige Dinge zu ändern.

Wenn Sie Fragen, Anregungen oder Ideen haben, dann schicken Sie mir diese einfach per Mail an k.john@nullltg.hessen.de.

Ihr Knut John